Perspektiven durch Kultur

26.07.2006

Ein Leben ohne Kultur als selbst geschaffene Umwelt, als Form des Zusammenlebens und geistige Bereicherung wäre nicht nur armselig, sondern auch unvorstellbar. Kultur als Gesamtheit der menschlichen Leistungen, als Pflege des Geistes und als soziale Organisationsform unterliegt dabei wie alles Menschliche der Veränderung und bedarf der Fürsorge.

Wer Kultur eingrenzen oder beschränken will auf den Begriff der freiwilligen Aufgabe eines Gemeinwesens zur Bereitstellung künstlerischer Angebote offenbart ein äußerst verkürztes Verständnis nicht nur von Kultur, sondern auch vom Menschen als Kulturwesen. Kultur bedeutet Zivilisation und Arbeit. Arbeit an sich selbst, an der Gemeinschaft, am Erhalt der Menschheit. Kulturlosigkeit würde früher oder später zum Ende unserer selbst führen.

Ist von Kultur im engeren Sinn die Rede, muss die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft einbezogen werden, sowie – hinsichtlich des Einzelnen – Bildung, Gesittung und Lebensweise.

Kultur und Sozialisation

Angesichts dieses Kontextes erscheint eine Debatte zur Finanzierung von Kultur in den falschen Rahmen gestellt. Menschwerden und Menschsein unter finanziellem Vorbehalt? Wohl kaum. Kultur kann konsequenter Weise nur Daseinsvorsorge sein. Bei aller Debatte, in einem dürften alle noch so unterschiedlichen Positionen übereinstimmen: Kulturlosigkeit will niemand, Kultur alle. Somit fragt sich, ob Kultur herstellbar ist und wenn ja, wie.

Zunächst einmal geschieht dies fast unbemerkt, quasi automatisch mittels Enkulturation. Dies ist der Prozess des Hineinwachsens in eine Kultur, deren Verinnerlichung – im Rahmen der Sozialisation, d.h. dem Sozialwerden des Einzelnen. Hierfür wiederum bedarf es der Institutionen bzw. selbige spielen eine große Rolle, angefangen bei der Familie über die Schule und die Arbeitsstelle bis hin zu Vereinen jeglicher Couleur und Weltanschauungsangeboten. Dabei geht es stets auch um die Vermittlung von Werten und letztlich das Kant’sche Dreieck „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“. Sozialisation ist nie abgeschlossen. Im Zentrum stehen die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, sowie die zahlreichen sozialen Beziehungen einer Person. Kultur im weiten und im engen Sinn spielt dabei eine erhebliche Rolle.

Dennoch wird bundesweit zunehmend versucht Kultur das Licht auszuknipsen, wie in Rostock z. B. beinahe dem LiWu. Kultur wieder nur als Frage des Geldes? Gar als Marktwert und Ware? Der Mensch als Ware wäre die folgerichtige Konsequenz – und die Anpassung des Einzelnen an die selbst geschaffene Gesellschaft.

Doch dann kommt da ein Jean Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert daher und meint, man könne für die Gesellschaft nur gegen die Gesellschaft erziehen. Erziehung und somit Sozialisation und Enkulturation als Kultur-Utopie? Die Gegenwart sieht anders aus, da scheint es eher um Kultur-Verwaltung zu gehen.

Kultur und Verwaltung

Die Umwandlung der Kulturstrukturen nach der Wende hat dazu geführt, dass der ehemals ausschließlich staatlich verwaltete Kulturbereich heute in nicht geringem Ausmaß von gemeinnützigen Trägern und privaten Initiativen getragen wird, die auch wirtschaftlich arbeiten (müssen).

Dafür bedarf es vieler Rahmenbedingungen, die der Staat zu gewährleisten hat, wobei es um Steuerrecht, Wirtschaftsförderung, Baurecht und Ähnliches geht. Kultur ist somit auch verwaltungstechnisch zunehmend Ressorts übergreifend zu betrachten. In einigen Kommunen gibt es ja bereits den Bereich Wirtschafts- und Kulturförderung – für Rostock noch immer eine Vision.

Kultur bedarf, so sie sich nicht selbst trägt, der Förderung. Die öffentliche Kulturförderung hat insbesondere dann ihre Berechtigung, wenn sie etwas unternimmt, was am Markt grundsätzlich oder gegenwärtig keine Chance hat. Der öffentliche Kulturauftrag muss sich gerade den schwierigen, ungewohnten, neuen Dingen zuwenden.

Zutreffend ist z.B., dass der gesamte Theaterbereich in Deutschland ohne öffentliche Förderung nicht existieren würde. Trotzdem und gerade deshalb muss man auch im Kulturbereich den Sinn dafür stärken, dass die Finanzmittel tatsächlich einem kulturellen und keinem ökonomischen Zweck dienend eingesetzt werden. Kulturinstitutionen können zudem dauerhaft nur dann gefördert werden, wenn sie ihr Publikum finden und binden.

Die Entscheidung über Förderung oder Nichtförderung fällt dabei fast ausschließlich die Politik, d.h. politisch zustande gekommene oder politisch besetzte Gremien in (vermeintlicher) Vertretung von Bürgerinteressen. In diesen Gremien widerspiegeln sich zugleich die individuelle Sozialisation jedes einzelnen Beteiligten einerseits als auch das Kulturverständnis breiter Mehrheiten andererseits. Entscheidungen stehen damit oftmals im individuellen und gesellschaftlichen Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung. Hinzu kommt, dass für nicht wenige (politische) Gremienvertreter Kultur oftmals eine Nebensache ist, sei es, dass ihre Bedeutung nicht erkannt wird, sei es im Bewusstsein ihrer scheinbar „automatischen“ Entwicklung. Eine gezielte Kulturpolitik könnte hier mehr Klarheit schaffen. 

Kultur und Politik

In jeder Region ist Kulturpolitik ein wesentliches gestaltendes Element, das auch über Kommen, Bleiben oder Weggehen von Menschen mit entscheidet. Gerade im Zuge der Globalisierung ist z. B. die Vergewisserung regionaler Traditionen nicht zu unterschätzen. Entstehung und Beibehaltung von Identität und Selbstbewusstsein werden wesentlich durch Kultur und damit Kulturpolitik geprägt. Wenn Wirtschaft überwiegend Psychologie sein soll, dann trifft dies umso mehr für Kultur und Kulturpolitik zu.

Die Schaffung regionaler Identität durch Kultur erfordert zugleich einen Zugang zu kulturellen Institutionen und Gütern. Dieser wiederum ist eine Frage der demokratischen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nur wenn Menschen durch Zugang am kulturellen Leben teilnehmen können, wächst auch ihre Identität – mit der Region und der Kultur.

Zudem ist der Kultursektor ein wesentliches Potential der Stadtentwicklung und neben den Wissenschaften  wohl der strategisch wichtigste Bereich. Kultur als Kulturwirtschaft zu erkennen, ist derzeit in Rostock scheinbar noch visionär, obwohl es andere Regionen und Städte längst vorgemacht haben. In unserer Hansestadt scheint nicht nur der Wille zu fehlen, sondern vor allem das Verständnis dieser Entwicklungschance.

Zunehmend wird in den sog. Industriestaaten nicht mehr produziert, sondern entwickelt und erfunden, was in sog. Billiglohnländern hergestellt wird. Man kann das beklagen oder sich dagegen auflehnen wie Don Quichotte gegen die Windmühlen. Man kann sich dieser Entwicklung aber auch stellen und auf Bildung, Kultur, Innovation setzen. Das bedarf dann aber „kultivierter“ Arbeitnehmer im weitesten Sinne, die zugleich selbst hohe Ansprüche im Bildungs- und Kulturbereich  stellen. Hinzu kommt: Wer qualifizierte mittlere und höhere Führungskräfte am Ort halten oder neue gewinnen möchte, muss ein vielseitiges Kulturangebot bieten. Die Entscheidung für eine berufliche Mobilität wird heutzutage zunehmend von der Qualität des örtlichen Kulturangebots abhängig gemacht. Wirtschaftliche Begleiteffekte und urbane Attraktivität – das wird die Hauptantriebskraft für Kulturpolitik sein.

Unter Berücksichtigung dieser Prämissen könnte und sollte ein kulturpolitisches Standortkonzept für Rostock erarbeitet werden. Dabei ginge es nicht nur darum Bestehendes zu definieren um einen Status quo zu halten, sondern um Veränderung mit Blick auf Zukunft.

Kulturpolitisches Standortkonzept

Rostock ist bereits eine Kulturstadt – ein von Vorgenerationen geschaffener Lebensraum mit einer mehr oder weniger erkennbaren Identität als Universitäts- und Hafenstadt im Ostseeraum. Insofern weder eine Utopie noch eine Vision. Doch reicht das? Jeder Mensch benötigt ein Zielbild seiner selbst. Brauchen wir das nicht auch für unsere Stadt? Eine Vision, die zu konkreten Zielen führt und eine Utopie, die die Grenzen der Gegenwart überschreitet?

Utopien bestanden zu allen Zeiten immer aus zwei Seiten: Einerseits leisten sie eine explizite Kritik an der Gegenwart, anderseits stellen sie dieser Gegenwart eine in sich logische und tragfähige Alternative entgegen. Genau dies geschieht in Rostock: Kritik an bisheriger Kulturpolitik mit teilweise mangelhaftem Gesamtkonzept einerseits und Entwicklung zukunftsweisender Ideen andererseits. Erst der Zusammenfall von Kritik und Alternative macht Utopie aus und ist somit ausschließlich positiv zu bewerten.

Neben der Wissenschaft ist Kultur eine der wenigen erneuerbaren Ressourcen. Über beides verfügt die Hansestadt. Kultur und Wissenschaft bilden somit das tatsächliche Zukunftspotential Rostocks. Kulturelle Kompetenz und kulturelle Vielfalt als Basis für Innovation und nachhaltige Entwicklung. Kultur als ein Faktor sozialen Zusammenhalts und regionaler Identität im globalen Wettbewerb. Kultur als Standortfaktor im Ostseeraum, Rostock als Ort kultureller Diskurse mit Bedeutung für ganz Mecklenburg-Vorpommern und das Baltikum.

In der (post)modernen Welt, konkret der Wissens- und Bildungsgesellschaft, wird der kulturelle Sektor immer bedeutsamer. Dabei geht es um die Erarbeitung, Verbreitung und kritische Rezeption von Deutungen der unüberschaubaren Wissensbestände. Wissensverarbeitung und Deutungsarbeit sind auch ökonomisch die eigentlichen Wachstumsbranchen der Zukunft. Der freie Zugang zu Wissen und Kultur entscheidet mehr und mehr über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, über die soziale Stellung des Einzelnen und damit über das Maß an realer Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen.

Die Stadt Berlin hat 2004 eine Agenda 21 für Kultur ins Leben gerufen. Rostock könnte mit Blick auf das 800-jährige Jubiläum der Stadtgründung im Jahr 2018 und das 600-jährige Jubiläum der Universitätsgründung im Jahr 2019 das Konzept einer „Kultur- und Innovationsstadt Rostock“ initiieren. Die Berliner Schwerpunkte im Kulturbereich könnten dabei auch die Rostocker sein:

–         Profilierung und Modernisierung

–         Stärkung des Städtischen

–         Förderung von Zugang und Austauschbeziehungen.

Dabei müssten auf Basis einer Bestandsaufnahme kulturpolitische Initiativen für künftiges Handeln bestimmt werden. Die Bestandsaufnahme ist in Rostock längst erfolgt, was fehlt ist die Zukunftsdebatte.

Kultur in der Stadt kann aber nur das Ergebnis eines Prozesses gemeinschaftlichen Handelns sein. Auch die Rostocker Kulturpolitik steht somit im Spannungsfeld von städtischer Verantwortung und persönlichem Engagement der Bürger. Gerade deshalb erfordert und ermöglicht kaum ein anderes Feld der Politik die Vergesellschaftung politischer Willensbildung und Realisierung kulturpolitischer Entscheidungen.

Trotz vielfacher Diskurse und begründeter Vorschläge ist es in Rostock bis dato leider nicht gelungen, strategische Verabredungen für konkrete politische Umsetzungsprozesse ausreichend zu treffen. Noch immer gilt es, das Verständnis für neue Entwicklungsperspektiven durch Kultur politisch mehrheitsfähig zu machen. Dazu bedarf es auch einer öffentlichen, ziel- und umsetzungsorientierten Debatte aller am kulturellen Prozess beteiligten Akteure. Eine Kultur- in Innovationsstadt Rostock müsste konkret verabredet und gestaltet werden.

Rostocker Kulturpolitik bleibt somit gefordert, die kulturelle Kraft der Hansestadt neu zu definieren. Der Vorschlag, eine Kultur- und Innovationsstadt Rostock ins Leben zu rufen, könnte dabei ein Anfang sein, ein gestaltbarer Anfang, der offen ist für weitere Vorschläge.

(Bei diesem Text handelt es sich um das Vorwort zu einer geplanten Broschüre im Rahmen der Initiative Kulturstadt Rostock 2018, die aufgrund fehlender Finanzmittel nicht erschien. Die Ausstellung unter dem selben Motto fand jedoch 2008 statt.)